Marokko: Israel als Vorbild für die Berber

Marokko: Israel als Vorbild für die Berber


Berber in Marokko wollen den 10. Dezember, den Tag der Normalisierung mit der Beziehungen mit Israel zu einem jährlichen Feiertag im politischen Kalender des Landes machen wollen.

 Marokko: Israel als Vorbild für die Berber

Von Stefan Frank

Ein Beitrag in der französischen Tageszeitung Le Monde, der Anfang des Monats erschien, wirft Licht auf ein sonst wenig beleuchtetes Thema: die Sympathien, die es unter ethnischen Minderheiten der MENA-Region für den Staat Israel und den Zionismus gibt.

In diesem Fall ging es um die Minderheit der Berber (Amazigh) in Marokko. Diese seien so glücklich über die Normalisierung des Verhältnisses zu Israel, dass sie den 10. Dezember – jenen Tag, an dem die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern bekannt gemacht wurde – zu einem Datum im politischen Kalender Marokkos machen wollten, das jedes Jahr gefeiert werden solle, berichtet die Autorin Nadia Chelly.

Le Monde ist nicht als israelfreundlich bekannt, im Gegenteil; die Zeitung dürfte wohl eine der wenigen auf der Welt sein, die schon einmal von einem Gericht in einem rechtskräftigen Urteil für schuldig befunden wurden, einen antisemitischen, rassistischen Hetzartikel gegen Israel veröffentlicht zu haben. 2005 musste der damalige Chefredakteur darum eine symbolische Entschädigung von einem Euro an den Französisch-Israelischen Freundschaftsverband und die Organisation Juristen ohne Grenzen zahlen.

„Taza vor Gaza“

Wenn ausgerechnet diese Zeitung darüber schreibt, dass Israel, wo auch immer auf der Welt, sehr beliebt ist, dann sollte man aufhorchen. „Taza vor Gaza. (Taza avant Gaza) Die Formel knallt wie ein Slogan“, beginnt Nadia Chelly ihre Reportage.

Taza ist eine strukturschwache – man kann auch sagen: arme – Provinz im Norden Marokkos, in der viele Berber leben, zwischen den südlichen Ausläufern des Rif-Gebirgszugs und den nördlichen Ausläufern des Mittleren Atlas. Mit dem Slogan wollten marokkanische Amazigh-Aktivisten deutlich machen, dass die Berber-Sache „Vorrang vor der Solidarität mit Palästina“ habe, schreibt die Autorin.

Der Ursprung des Slogans ist allerdings ein anderer. In einem Artikel, der 2006 im Wochenmagazin Jeune Afrique erschien, benutzte der Autor den Satz „Taza avant Gaza“ und den Anglizismus Morocco first, um die Politik des marokkanischen Königs Mohammed VI. zu umschreiben: Dieser kümmere sich weniger um Außenpolitik und mehr um die Belange der marokkanischen Bevölkerung, hieß das. Das heißt aber natürlich nicht, dass Berber-Aktivisten ihn nicht heutzutage benutzen können, um ihre eigenen politischen Anliegen zu artikulieren.

Die Berber seien in Marokko „die Einzigen“, die „sich am helllichten Tag über die diplomatische Normalisierung mit Israel“ freuten, schreibt Chelly. Die Formulierung lässt erahnen, dass es viele Marokkaner gibt, die die Entwicklung im Stillen begrüßen, sich aber dazu nicht öffentlich äußern würden.

Es gebe in Marokko eine „Öffnung“ gegenüber Israel, aber die sei „noch nicht überall in der marokkanischen Gesellschaft angekommen“ – so formulierte es Steffen Krüger, der Landesbeauftragte Marokko der Konrad-Adenauer-Stiftung, im Februar in einem Interview mit Mena-Watch. Der „Trump-Deal“ sei in Marokko ein „großes Ereignis“ gewesen, sagte Krüger. „Da merkte man, dass den meisten Marokkanern die Westsahara nähersteht als Palästina, und darum wurde der allgemein recht positiv aufgenommen.“

Nadia Chelly drückt es sehr ähnlich aus: „Die Mehrheit der öffentlichen Meinung applaudierte dem Teil des ‚Deals’, in dem es um die Westsahara geht, schwieg jedoch über die Versöhnung mit dem jüdischen Staat.“ Aber „viele Amazigh-Aktivisten“, so Chelly weiter, „teilen die Verlegenheit nicht. Ihre pro-israelische Empathie ist sogar so ungehemmt, dass sie vorschlagen, den 10. Dezember als Jubiläum zu etablieren.“

Die historische Symbolik des Ereignisses müsse gefeiert werden, fordere etwa die Confédération Atlas Transift, eine Koalition von Amazigh-Verbänden aus dem marokkanischen Atlas-Gebirge. Das liege daran, so Chelly, dass viele Berberaktivisten den jüdischen Staat „als erfolgreiches Modell für die Rückeroberung des angestammten Landes“ sähen.

„Seit dem Zeitalter des Kolonialismus mussten die Amazigh erfahren, wie ihre Kultur und ihre Geschichte abgelehnt und unterdrückt“ wurde, erklärt Mohamed El Ouazguiti, der Koordinator der Confédération Atlas Transift und Gründer der Nachrichtenseite AmazighWorld. „Gleichzeitig ist es den Juden, die das gleiche Schicksal erlitten hatten, gelungen, im Nahen Osten ihre Identität und sogar ihre Sprache wiederzubeleben.“ Diese „behauptete Analogie“ nähre ein „Gefühl der Nähe“, so die Reporterin.

Gemeinsame Vergangenheit in vorarabischer Zeit

Wie der in Tel Aviv lehrende Historiker Bruce Maddy-Weitzman in einem Buch über die Berberbewegung schreibt, hätten sich „Geschichte, Mythen, Legenden und zeitgenössische politische Agenden“ zu einem „faszinierenden Bild der Beziehungen zwischen Berbern und Juden im Laufe der Geschichte“ verbunden.

Eines der Ergebnisse sei der häufig unter Amazigh geäußerte Glaube, dass sie einst Juden gewesen seien, „eine Ansicht, die mit ihrer größeren historischen Erzählung übereinstimmt, ein altes Volk in Tamazgha zu sein, das mit aufeinander folgenden Wellen von Ausländern interagierte (von denen, wie sie sagen, nur die Juden in Frieden gekommen seien).

Diese Erzählung sei nicht nur in Marokko, sondern auch in Algerien zu hören, schreibt Maddy-Weitzman, fügt aber hinzu, dass moderne Historiker Zweifel an der „Tiefe und Breite der jüdisch-berberischen Beziehungen in vorislamischer und frühislamischer Zeit“ hätten.

Unbestritten ist, dass jüdische Gemeinden in Nordafrika mindestens seit der Zeit des Zweiten Tempels (70 n. Chr. zerstört) existierten. Bis weit in die Spätantike hinein sei die punische Sprache der phönizischen Seeleute und Händler in der Region verwurzelt gewesen, so Maddy-Weitzman. „Diese ‚phönizische Verbindung’ mit Nordafrika trug zweifellos zum Glauben der Bevölkerung an die semitischen Ursprünge der Berber bei und machte die Berber zu Cousins der Juden (und Araber) aufgrund ihrer Rasse und Sprache“.

Heutige Amazigh-Aktivisten verwiesen auch auf die Geschichte von Kahina, der legendären Berberkönigin, die nach Meinung mancher auch eine jüdische Berberin gewesen sein könnte, und die den Widerstand der nordafrikanischen Ureinwohner gegen die arabische Eroberung angeführt haben soll. Kahina gelte manchen als Indiz dafür, dass die Berber von den Juden abstammen könnten, so Maddy-Weitzman.

Das Einzige, was aus Sicht des Historikers sicher sei, schreibt er, sei indes, dass „kollektive und individuelle Identitäten sowohl in der Antike als auch in der Neuzeit immer ein gewisses Maß an Fluidität besessen haben, selbst solche, die allgemein als ursprünglich angesehen werden“. Im religiösen Glauben und der Praxis in Nordafrika hätten sich in der spätrömischen und frühchristlichen Zeit „häufig Elemente des Judentums, des Heidentums und des Christentums“ miteinander vermischt.

Dass marokkanische Juden noch bis zur Zeit der Unabhängigkeit des modernen Staates Marokko häufig in der Nähe von Berbern oder unter ihnen lebten, ist eine Tatsache. Bedeutete dies, dass es sich um Berber handelte, die zum Judentum konvertiert waren, um die Islamisierung zu vermeiden, oder waren es in erster Linie Juden, die von anderswo gekommen waren und sich dem Berbermilieu angepasst hatten? Höchstwahrscheinlich liege die Antwort irgendwo in der Mitte, so der Historiker.

Sicher wiederum ist, dass laut einer Volkszählung von 1936 drei Viertel der 161.000 Juden Marokkos zweisprachig in der Berbersprache und Arabisch waren, weitere 25.000 waren ausschließlich Berbersprecher. Juden, so Maddy-Weitzman, hätten in den Bergdörfern des Atlas „oft eine Vermittlerrolle zwischen Arabern und Berbern und auch zwischen verschiedenen Berbern“ gespielt.

Reisen nach Israel

Zurück zu dem Le Monde-Artikel. Wie die Autorin berichtet, reiste eine Delegation von Amazigh-Aktivisten 2016 nach Tel Aviv und traf sich mit Mitgliedern der marokkanisch-jüdischen Gemeinde sowie mit Abgeordneten der Knesset.

„Zwei Jahre zuvor war ein angekündigter Besuch von Amazigh-Intellektuellen in der israelischen Hauptstadt, wo sie zu einem Symposium eingeladen worden waren, wegen eines Aufschreis in Marokko abgesagt worden. Propalästinensische Verbände forderten daraufhin, dass die marokkanischen Behörden jeden, der nach Israel reist, wegen ‚Spionage für den Feind’ strafrechtlich verfolgen.“

Nadia Chelly zitiert Mohamed El Ouazguiti, der sagt, die Maghreb-Juden seien „ganz einfach unsere Vorfahren, die sich widersetzten und nicht zum Islam konvertierten“. Mounir Kejji, den die Reporterin als „Intellektuellen und Amazigh-Aktivisten“ vorstellt, sagt: „Während meines Aufenthalts in Israel habe ich mit marokkanischen Juden in meiner Muttersprache Tamazight sprechen können. Ich hatte Tränen in den Augen.“

 

Erstveröffentlicht bei MENA Watch


Autor: MENA Watch
Bild Quelle: J. Patrick Fischer, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons


Sonntag, 18 April 2021