Kafkas `Prozess´: Die Schlinge ist unsichtbar

Kafkas `Prozess´: Die Schlinge ist unsichtbar


Thüringen ist aus historischen Gründen das Land mit der größten Theaterdichte. Nordhäuser Theatergänger konnten sich am 10. Januar davon überzeugen, dass darunter nicht die Qualität leidet.

Kafkas `Prozess´: Die Schlinge ist unsichtbar

Von Vera Lengsfeld

Es fand die Premiere des Rudolstädter Kooperationstheaters statt, „Der Prozess“, eine Inszenierung nach dem Romanfragment von Franz Kafka, in einer Bühnenfassung von Mario Holetzeck, der auch die Regie führt.

Der Abend beginnt ungewöhnlich. Nachdem die Türen geschlossen sind, passiert erst einmal nichts. Die Bühne strahlt ganz in Weiß, der Farbe der Unschuld. Schweigen. Leider hatten die Männer hinter mir nicht begriffen, dass die Vorstellung bereits begonnen hatte, obwohl noch nichts passierte und setzten ihre Gespräche fort.

Dann trippeln schwarz gekleidete Gestalten auf die Bühne, die zwar unterschiedlich groß sind und sich in einigen Details wie Haar- und Handschuhfarbe unterscheiden, durch ihre koordinierten, gleichförmigen Bewegungen aber zu einer homogenen Masse verschmelzen. Diese Masse führt einen routinierten Tanz auf, aus dessen Mitte plötzlich einer der Tänzer ausgestoßen wird. Der plötzlich zum Paria gewordene versucht, sich wieder einzufügen, vergeblich. Damit beginnt die Leidensgeschichte des Josef K., ausgerechnet an seinem 30. Geburtstag.

Festgenommen ohne Haftbefehl

Kafka hatte seinen Roman mit diesem Satz begonnen, der während des beklemmenden Geschehens bruchstückhaft an die weißen Wände projiziert wird:
„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“. Er wird von gesichtslosen Wächtern festgenommen, ohne Haftbefehl, ja ohne jegliche Begründung. Was Josef K. anfangs für einen Scherz seiner Bankkollegen hält, entpuppt sich bald als bitterer Ernst. Das ungewöhnliche seiner Verhaftung ist, dass sie nicht mit einem physischen Kerker verbunden ist. Josef K. kann sich weiter frei bewegen, seinen Bankgeschäften nachgehen, mit seiner Vermieterin reden, seiner heimlich angebeteten Mitbewohnerin auflauern. Die Schlinge, die sich immer fester um ihn zieht, ist unsichtbar. Sie kommt aber klar in den Körperbewegungen der Personen zum Ausdruck, mit denen Josef K. versucht zu kommunizieren.

Dieser Regieeinfall ist ebenso bemerkenswert wie wirkungsvoll. Der Zuschauer wird nur durch die Bewegungen gefesselt und auf die Bühne gezogen. Ich habe selten Theater von dieser Intensität erlebt. Daran hat jeder einzelne Darsteller seinen Anteil.

Kafka, der vom Prozess erst den Anfang, dann das Ende, die Hinrichtung, schrieb und beim Ausfüllen des Zwischenteils ins Stocken geriet, fordert zu unterschiedlichen Deutungen geradezu heraus. Für mich ist er nicht nur der Begründer der literarischen Moderne, sondern der Schriftsteller, der am deutlichsten die totalitären Gefahren der sich entwickelnden Massengesellschaft erkannt hat. Er legt zugleich den Finger auf die Wunde.

Er sieht das Gericht, das ihn verurteilt, nie

Im Roman geschieht nichts, ohne letztendliche Einwilligung von Josef K., der zwar anfangs gegen das Unrecht, das ihm angetan wird, rebelliert und versucht, zu verstehen, warum das mit ihm geschieht. Das gelingt ihm aber nicht. Er sieht das Gericht, das ihn verurteilt, nie. Am Ende ist er erschöpft mit seiner Hinrichtung einverstanden. Das erinnert beklemmend an die Stalin-Opfer, die vor dem Erschießungskommando noch ihren Führer hochleben ließen. Arthur Koestler hat das in „Sonnenfinsternis“ eindrücklich beschrieben.

Holetzeck liefert seine eigene Deutung. Er bezieht Kafka in die heutige Überwachungsgesellschaft mit ihren sozialen Netzwerken mit ihrem Verleumdungs-Potenzial ein. Sein Josef K. wehrt sich immer wieder, entschiedener als sein Romanvorbild. Der tödliche Stoß wird ihm vom Maler Titorelli (ein genialer Auftritt von Manuela Stüßer auf Stelzen) versetzt, der ihm klarmacht, dass er dem Gericht nie entkommen wird, auch wenn es ihm gelänge, die endgültige Verurteilung hinauszuziehen. Dennoch versucht er noch in seiner Todesstunde in der Auseinandersetzung mit dem Gefängniskaplan, der auch der Henker ist, Widerstand zu leisten. Vergeblich. Die Blöcke zermalmen ihn.

Den Namen Oliver Baesler, der den Josef K. auf der Bühne zu einem Menschen machte, sollte man sich merken. Mit seinem Spiel hat der junge Mann nachdrücklich auf sich aufmerksam gemacht. Wer mitten in der Provinz wirklich gutes Theater sehen will, sollte die Aufführung nicht verpassen.

 

Vera Lengsfeld, Publizistin, war eine der prominentesten Vertreterinnen der demokratischen Bürgerrechtsbewegung gegen die "DDR"-Diktatur, sie gehörte 15 Jahre dem Deutschen Bundestag als Abgeordnete der CDU an. Sie publiziert u.a. in der Achse des Guten und in der Jüdischen Rundschau.


Autor: Vera Lengsfeld
Bild Quelle: Vincent Eisfeld [CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]


Sonntag, 19 Januar 2020

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